Deutscher Jugendliteraturpreis – Nominierungen der Jugendjury

Manchmal lernen wir die eigene Oma niemals kennen, weil sie schon vor unserer Geburt gestorben ist, dann gibt es noch diesen Onkel den niemand seit 20 Jahren gesehen hat und eine entfernte Cousine kam zu jeder Familienfeier bis irgendwann der Kontakt einschlief. Solche oder ähnliche Verhältnisse gibt es vermutlich in den meisten Familien – dieser eine Verwandte der nur noch vage Erinnerung ist. Für Joe Moon ist diese Person kein entfernter Verwandter, sie ist sein Bruder. Der ist auch weder tot noch verschwunden und trotzdem hat Joe ihn seit zehn Jahren nicht gesehen, denn Edward Moon sitzt im Todestrakt eines Gefängnisses in Texas.

In der Familie Moon gehört das Verschwinde fast zum guten Ton. Die Väter der drei Kinder Joe, Ed und Angela waren niemals existent und nachdem Ed „verschwand“ verließ auch die alkohol- und drogensüchtige Mutter ihr verbliebenen zwei Kinder. Nur die strenge Tante Karen blieb als eine Art Konstante im Leben von Joe und Angela und das auch nur aufgrund der Verhaftung von Ed.

Zum Zeitpunkt der Verhaftung konnte der damals 7jährige Joe die angebliche Ermordung eines Polizisten durch seinen Bruder nur schwer begreifen und obwohl das Recht besonders in Amerika eine Frage des Geldes und der Herkunft ist, behielten sowohl er als auch seine Schwester Angela ein diffuses Gefühl von Hoffnung. Selbst nach der Bekanntgabe des Hinrichtungsdatums und Joes Reise nach Texas bleibt dieses Gefühl erhalten, schließlich könnte zumindest theoretisch der Gouverneur oder der Präsident Ed begnadigen, denn Geld oder Herkunft sind niemals ausspielbare Optionen für die Moons gewesen.

Die Autorin Sarah Crossan lies sich für Wer ist Edward Moon?, dessen Originaltitel ‚Moonrise‘ weitaus intelligenter und passender erscheint, von einer BBC-Dokumentation inspirieren, die den zum Tode verurteilten 27 Jahre alten Edward Earl Johnson in seinen letzten Wochen bis zu seiner Hinrichtung 1987 begleitete. Die Tapferkeit und Würde des Verurteilten, der stets seine Unschuld beteuerte und wie der fiktive Edward Moon des Polizistenmordes beschuldigt wurde, ebenso wie die Aufopferung des Anwalts Clive Staffort Smith bei offensichtlicher Chancenlosigkeit verarbeite Crossan ganze 30 Jahre später in eben diesem Roman. Ein Roman der so gekonnt zwischen den Zeiten springt, bewusst die Wirkung der Leere einer Seite einsetzt, seine Figuren mit wenigen Worten derart nahbar und doch fremd erscheinen lässt und sich dafür einer rhythmisch hypnotisierenden Sprache in ungereimter Versform bedient ist ebenso atemberaubend wie selten. Zudem verhandelt es allzeit aktuelle Themen wie die Uneindeutigkeit von Schuld, die Fehlbarkeit der Rechtsprechung oder die Sinnhaftigkeit des Todes und dessen Einsatz als Strafe.

Ein fantastisches Stück Literatur und außerdem eine große Leistung der Übersetzerin Cordula Setsman.

Sarah Crossan: Wer ist Edward Moon?
Aus dem Englischen von Cordula Setsman
Covergestaltung: Zero Werbeagentur GmbH
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Mixtvision, München 2019, 357 Seiten, 17,00 €
ISBN 978-3-95854-140-5

„Da sich Sprache rasant verändert und weil verschiedene Menschen unterschiedliche Vorgaben haben, solltest du immer den Sprachgebrauch annehmen, den einzelne Personen verwenden, wenn sie von sich selbst sprechen“.

Sprache ist kein unveränderliches Fossil das es zu bewahren gilt. Es ist ein sich ständig wandelndes System und muss in manchen Fällen bewusst an die Lebenswirklichkeit der Menschen die sie benutzen angepasst werde. Wenn in Sprachdebatten scheinbar intelligente Menschen nur aufgrund ihrer Rückwärtsgewandtheit an Altem festhalten und beispielsweise geschlechtsneutrale Pronomen ablehnen, verwundert es nicht dass Personen nicht im Stande sind ihrem Gegenüber auf rein sprachlicher Ebene mit dem nötigen Respekt vor dessen Existenz zu begegnen. Im schlimmsten Fall endet dies in einem Bus mit einem brennenden Rock.

Dieser Gedankengang, ausgehend von der Abstraktheit der Sprache hin zu einer Brandtat in einem Bus mag zunächst verwundern, ist Dank Dashka Slaters Bus 57 jedoch gut nachvollziehbar. Als Journalistin des New York Times Magazines beschäftigte sich Slater im Februar 2015 erstmals in einem längeren Artikel mit der Tat eines afroamerikanischen Teenagers, der im Bus 57 in Oakland einen nahezu gleichaltrigen genderqueeren Teenager in Brand setzte. Ihre umfangreichen Recherchen bestehend aus Protokollen, Aktenauszügen, Interviews, Briefen und Blogbeiträgen verwob Dashka Slater daraufhin zu einem Roman, der sowohl Opfer als auch Täter näher beleuchtet, der LGBTQ, Rassismus, das US-amerikanische Strafrecht, Klassenzugehörigkeit und nicht zuletzt den richtigen Umgang mit Sprache thematisiert. Wohltuend ist hierbei der stark journalistisch geprägte Schreibstil, dessen objektive Sichtweise nur gelegentlich durch teilweise deplatziert wirkende literarische Überhöhungen gestört wird. 

Insgesamt ein gelungener Roman, der trotz seines breiten Themenspektrums nicht überladen wirkt und mit kurzen Kapitel und spannendem Aufbau überzeugt.

Dashka Slater: Bus 57
Aus dem Amerikanischen von Ann Lecker
Umschlaggestaltung: Michael Dietrich
Loewe Verlag, Bindlach 2019, 400 Seiten, 18,95 €
ISBN 978-3-7432-0363-1

Draußen unterwegs sein, im See baden oder zur Schule gehen – scheinbar normale Aktivitäten. Selbst Kinder von Helikopter-Eltern kommen in regelmäßigen Abständen an die frische Luft und wer nicht gerne badet fährt eben Fahrrad oder spielt Fußball. Unsere Normalität, unsere Freiheit wird uns immer erst bewusst wenn die Ungerechtigkeiten der Welt so sichtbar und so konträr zu unserer Lebensrealität werden, dass wir für einen kurzen Moment innehalten. Ein solcher Moment war der Anschlag der Taliban auf Malala Yousafzai. Einem 15jährigen Kind, einem Mädchen, dass einfach nur zu Schule ging, für dieses Recht öffentlichkeitswirksam kämpfte und diesen Kampf glücklicherweise bis zum heutigen Tag fortsetzt. Doch leider kämpfen auch die Taliban weiter, nicht nur in Malalas Heimatland Pakistan sondern u. a. auch in Afghanistan. 

In diesem immer wieder als sicher deklarierten Land siedelt Dirk Reinhardts sein drittes Jugendbuch Über die Berge und über das Meer an. Stets mit leichter Distanz beschreibt er aus personaler Erzählperspektive die Flucht der Jugendlichen Soraya und Tarek. Soraya, die Samir genannt wird und aufgrund eines alten Brauches als Junge aufgewachsen ist, soll mit ihren 14 Jahren wieder die Rolle eines Mädchens annehmen und verheiratet werden. Tarek hingegen möchte sich nicht von den Taliban aufgrund seiner Fähigkeiten als Spurenlesen anwerben lassen. Unabhängig voneinander und unterstützt von ihren Familien machen sich die beiden auf sich kreuzende Wege nach Europa, um ihr Leben vor den Taliban zu schützen.

Obwohl Über die Berge und über das Meer zum Ende auf beschreibender Ebene etwas konstruiert wirkt, bleibt es ein packender Fluchtroman, dessen Brisanz und Aktualität auf der Hand liegen dürfte. Besonders die intensive Recherche des Autors unter nach Deutschland Geflüchteten dürfte für die ansonsten detailreiche und durchweg realistische Handlung verantwortlich sein. Ein wichtiger und empathiestiftender Roman, der sonneverklagenden, hundekrawattetragenden Vogelschissen der Geschichte unbedingt in die Hand gedrückt werden sollte!

Dirk Reinhardt: Über die Berge und über das Meer
Umschlaggestaltung: init.büro für gestaltung, Bad Oeynhausen
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2019, 272 Seiten, 14,95 €
ISBN 978-3-8369-5676-5