Von Pferden mit Gymnasialbildung, fragwürdigen Hausaufgaben und laufenden Walen

In Erich Kästners 1931 veröffentlichtem Roman Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee muss dessen Hauptfigur Konrad einen Aufsatz über die Südsee schreiben. Mit Zirkuspferd und Onkel begibt er sich auf eine mehr als fantastische Reise durch sehr eigenartige Länder und Gegenden. Überraschend ist neben den skurrilen Einfällen Kästners besonders die Aktualität dieses Klassikers der Kinderliteratur.

Lehrer – eine ganz spezielle Sorte Mensch. Heutzutage finden sich vielleicht weniger fragwürdige Gestalten in diesem Berufsfeld. Die persönliche Erfahrung der vergangenen Jahre hat jedoch gezeigt, dass immer noch viel zu viele Personen diesen Beruf aus den völlig falschen Gründen ergreifen und deshalb ungeeignet sind anderen Wissen zu vermitteln. Bereits in der Vergangenheit scheinen Lehrer nicht anders gewesen zu sein. Wie lässt sich sonst die fragwürdige Hausaufgabe für Konrad in Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee erklären. Nur weil er sehr gut rechnen kann, muss er einen Aufsatz über die Südsee schreiben, da es ihm angeblich an Fantasie mangelt. Auf so eine Idee können nur Lehrer kommen die nichts mit Mathematik anfangen können. Sie ignorieren die Tatsache, dass man auch zum Lösen mathematischer Aufgaben etwas Fantasie benötigt.

Nun gut, genug des Lehrer-Bashings. Immerhin verdanken wir dieser eigenartigen Hausaufgabe eine wundervolle Geschichte. Eine Geschichte voller rollschuhfahrender Pferde, laufender Wale und scheußlich schöner Gerichte, wie gekochter Schinken mit Schlagsahne, Salzbrezeln mit Preiselbeeren oder Kirschkuchen mit englischem Senf. Selbstverständlich verspeisen Apotheker Ringelhuth und sein Neffe Konrad jeden Donnerstag Gerichte dieser Art, natürlich nur um sich abzuhärten. Alle anderen Ereignisse dieses Tages sind dagegen doch etwas ungewöhnlicher, denn „am 35. Mai muss der Mensch auf das Äußerste gefasst sein.“ Die Begegnung mit dem ehemaligen und aktuell arbeitslosen Zirkuspferd Negro Kaballo scheint hier noch vergleichsweise gewöhnlich. Auch Negro Kaballos überragende Leistungen beim Dichterquartett überraschen nicht, schließlich ist es ein Pferd mit Gymnasialbildung. Erst als es beim Riesenross höchstpersönlich anruft um die Südseereise zu ermöglichen, wundern sich sowohl Onkel als auch Neffe. Mittels eines Schrankes aus dem 15. Jahrhundert sind es dann nur noch zwei Stunden Fußmarsch bis die kleine Gruppe die Südsee erreicht. Auf dem Weg dorthin bereisen sie mehrere sehr eigenartige Länder und Gegenden so dass die Südsee fast in Vergessenheit gerät.

Mit euch ist heute wieder mal nicht zu reden. Ihr seid viel zu ernst für euer Alter.

Ausgehend vom Schlaraffenland durchqueren sie die Burg zur großen Vergangenheit, die verkehrte Welt und Elektropolis, bis sie ihr finales Ziel erreichen. Sie lernen die unfassbar faulen und meist schlafenden Schlaraffen kennen, die als Einwohner dieses Landes mindestens zweieinhalb Zentner Gewicht auf die Waage bringen müssen und sich aus Bequemlichkeit häufig nur von Pillen ernähren. Sie geraten in „eine ausgesprochen bärtige Gegend“, in der Größen der Geschichte wie Karl XII. von Schweden, Götz von Berlichingen oder Peter der Große gegeneinander antreten, Julius Cäsar und Napoleon ihnen ihre Sitzplätze streitig machen und Hannibal sich mit Wallenstein im Garten einen Zinnsoldatenkrieg liefert, den der Moralist Kästner auf humorvolle Weise kommentiert. Während in der verkehrten Welt Kinder ungerechte und böse Erwachsene im Sinne des Rechtssatzes ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ erziehen, erschreckt die Darstellung der automatischen Stadt Elektropolis aufgrund ihrer Aktualität. Von der durchmechanisierten Landwirtschaft und der völlig autonomen Viehverwertungsstelle über das autonome Fahren, einer frühen Form des Handys bis hin zu einer Art des bedingungslosen Grundeinkommens. Nahezu alle Errungenschaften dieser Stadt sind mittlerweile Teil unserer Realität, werden es bald sein oder werden zumindest breit diskutiert.

Bevor das Dreiergespann endgültig die Südsee erreicht, den Südseekönig Rabenaas und dessen schwarz-weiß gemusterte Tochter Petersilie kennen lernt, vor einem laufenden Walfisch flüchtet und auf einem anderen Weg die Heimreise antritt als es gekommen ist, muss es auf dem Äquator, einem rostigen Stahlband, angriffslustigen Haien ausweichen. 

Erich Kästners erstmals 1931 veröffentlichte Geschichte quillt über vor skurrilen Einfällen und lässt keine Minute Langweile aufkommen. Als ein Klassiker der Kinderliteratur ist Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee heute überraschenderweise aktueller als noch vor einigen Jahren, dies verdeutlicht die automatische Stadt Elektropolis. Es gibt an diesem Buch einfach nichts zu meckern und die Neuausgabe des Atrium-Verlags ist besonders durch die Kolorierung der Illustrationen Walter Triers eine Freude. Sollte jemand diese Ansicht nicht teilen können, dem seien Onkel Ringelhuths Worte an Konrads Eltern nahegelegt: „Mit euch ist heute wieder mal nicht zu reden. Ihr seid viel zu ernst für euer Alter.“

Erich Kästner: Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee
Illustrationen und Titelbild von Walter Trier

Koloriert von Martina Liebig
Umschlaggestaltung: Herr K | Jan Kermes, Leipzig
Satz: Dörlemann Satz, Lemförde
Druck und Bindung: GGP Media, Pößneck
Neuausgabe: Atrium Verlag, Zürich 2018, 160 Seiten, 14,00 €
Erstveröffentlichung: Williams & Co, Berlin-Grunewald 1932
ISBN: 978-3-85535-602-7