Von unerschütterlicher Liebe, kleinen Tigern und den scheinbar wichtigen Dingen des Lebens

Glückliche Kindheiten sind im Idealfall geprägt von fantastischen und literarischen Wesen: Starken Mädchen mit roten Zöpfen, wilden Kerlen die auf einsamen Inseln Krach machen oder pfiffigen Detektiven die in Großstädten auf Verbrecherjagd gehen. Warum meine unerschütterliche Bilderbuch-Kindheitsliebe dennoch einem kleinen Tiger gilt, der sich Zeit lässt die scheinbar wichtigen Dinge des Lebens zu lernen?

Leo träumt viel. Er sitzt einfach da und träumt. Glücklich sieht er dabei nicht aus, aber irgendwas lernen möchte er auch nicht. Manchmal jagt er auch Kaninchen, schließlich ist Leo ein Tiger, aber wirklich erfolgreich scheint er dabei auch nicht zu sein. Deshalb sitzt er rum und träumt.

Alle anderen Tierkinder können bereits ‚alles‘. Sie lesen, schreiben, malen, sprechen und essen ordentlich. Wen wundert es da schon, dass Leo keine Lust hat irgendetwas zu lernen, wenn diese ganzen Streber sowieso schon ‚alles‘ können. Zu Leos Glück sieht seine Mama das ‚alles‘ und das ‚alles‘-nicht-können sehr entspannt. Sie gibt ihm die Zeit die er braucht und weiß, Leo wird ‚alles‘ noch früh genug lernen. Nur seinem Papa fällt das Warten sehr schwer. Jeden Tag liegt er auf der Lauer und wartet und wartet und wartet, doch Leo träumt weiter und weiter und weiter. Der Winter kommt und geht und Papa fragt sich immerzu Was ist nur mit Leo los? Doch dann kommt der Frühling und „eines Tages ist es plötzlich soweit. Leo kann auf einmal alles.“

Dann aber dann eines Tages ist es plötzlich soweit. Leo kann auf einmal alles.

Glückliche Kindheiten sind im Idealfall geprägt von fantastischen und literarischen Wesen: Starken Mädchen mit roten Zöpfen, wilden Kerlen die auf einsamen Inseln Krach machen oder pfiffigen Detektiven die in Großstädten auf Verbrecherjagd gehen. Obwohl ich noch heute furchtbar gerne Pferde stemmen und Spunks fangen würde oder mit wilden Kerlen über eine Insel toben würde, im Herzen bleibe ich doch immer dieser kleine Tiger, der sich Zeit lässt die scheinbar wichtigen Dinge des Lebens zu lernen.

Warum das so ist und warum ausgerechnet Was ist nur mit Leo los? von Robert Kraus meine absolute Bilderbuch-Kindheitsliebe ist? Vermutlich lässt sich eine solch bedingungslose und unerschütterliche Buchliebe nicht rational erklären. Doch jeder der sich mit diesem meist muffelig dreinschauenden Tiger auch nur im Ansatz identifizieren kann, wird Leo und auch mich verstehen.

Robert Kraus: Was ist nur mit Leo los?
Illustrationen von Jose Aruego
Aus dem Amerikanischen von Tilde Michels
Gerhard Stalling AG, Oldenburg und Hamburg 1974, 32 Seiten
ISBN 3-7979-2218-2